Maestro Martino: Libro de arte coquinaria

Italienische Kochbücher und Köche – #4

 

Die Renaissance löste bekanntlich das Mittelalter ab. In der damit beginnenden Neuzeit entstanden mehrere bahnbrechende Kochbücher. Ganz im Sinne der von Jacob Burckhardt so apostrophierten “Entdeckung der Welt und des Menschen”[1] trat nun auch der Koch selbst aus der Anonymität in den Vordergrund und wurde als solcher genannt und gewürdigt: Maestro Martino als Verfasser des

 

Libro de arte coquinaria

 

hat seine Erfahrungen als Berufskoch an verschiedenen Höfen in diesem Werk zusammengefasst. Martino wird verschiedentlich auch Martino da Como genannt, da man lange irrtümlich annahm, er stamme aus Como. Tatsächlich aber wurde er in den 30er Jahren des 15. Jahrhunderts im Bereich Blenio (damals zum Herzogtum Mailand, heute zum schẃeizer Kanton Tessin gehörig) geboren, und zwar wohl unter dem Namen Martino de’ Rossi oder Martino de Rubeis. Nach einem Aufenthalt in Udine ging er nach Mailand, wo er für den Herzog Francesco Sforza tätig war. Von Mitte der 50er Jahre bis 1465 war er Chefkoch am Hofe des Kardinals Lodovico Trevisano (Ludovico Scarampi Mezzarota), der als Patriarch von Aquileia in Rom residierte und dort als Gastgeber opulenter Bankette so berühmt war, dass man ihn cardinal Lucullo (in Anspielung auf den römischen Konsul und Prasser Lucius Licinius Lucullus) nannte.[2] Martino war ferner für die Päpste Paul II und Sixtus IV tätig[3] und kehrte dann nach Mailand zurück, wo er in Diensten des Marchese Gian Giacomo Trivulzio kochte. Dort oder in Rom verstarb er vermutlich in den letzten 20 Jahren des 15. Jahrhunderts.[4]

 

Seine Anstellungen an unterschiedlichen Höfen verhalfen Martino zu neuen Erfahrungen und ermöglichten es ihm, seine Kenntnisse im gastronomischen Bereich zu vertiefen. Im Dienste des Kardinals Scarampi Mezzarota weilte er bspw. eine Zeit im aragonesischen Neapel, wo er in Kontakt mit der katalanischen und arabischen Küche kam. Letztere regte Maestro Martino bspw. an, Saucen mit Rosinen, Pflaumen und Weintrauben zubereiten. Die Quintessenz seiner Kochkünste ist der Libro de arte coquinaria, der vermutlich zwischen 1456 und 1467 entstand[5]. Der Autor ordnete seine (je nach Handschrift) ca. 187 Rezepte[6] kapitelweise und beschrieb Fleisch, Suppen, Teig- und Gemüsegerichte, Soßen, salzige und süße Torten, Frittiertes, Eier- und Fischgerichte. Bei einigen Gerichten werden sogar Zubereitungsvarianten angegeben. Maestro Martino belässt es aber nicht einfach bei der Auflistung von Rezepten, sondern stellt auch grundsätzliche Überlegungen zu verschiedenen Zutaten und deren Verwendung und Verträglichkeit an. Vereinzelt finden sich sogar Zeitangaben in Form von Stunden (oder Teilen von diesen) und Vaterunser.[7] Maestro Martino beginnt seine Abhandlung mit Ausführungen über verschiedene Fleischarten und deren Zubereitung.

 

Maestro Martino Libro de arte coquinaria
Maestro Martino: Libro de arte coquinaria
Erste Seite der Washingtoner Handschrift
Washington (Library of Congress, Medieval Manuscript No. 153)

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Im Sinne einer zeitlichen Kontinuität ist Martino einerseits natürlich noch von der spätmittelalterlichen Küche, wie sie bspw. im Liber de coquina zum Ausdruck kam, beeinflusst. Andererseits findet sich im Libro de arte coquinaria so viel Neues, dass F. Möhren sogar von einer “nouvelle cuisine”[8] spricht. Neu ist zunächst einmal das, was nicht mehr niedergeschrieben wird: Breiartige Rezepte fehlen bei Maestro Martino völlig. Besonders wichtig ist die abnehmende Bedeutung von Gewürzen, die im Mittelalter – auch in Kombination miteinander – sehr geschätzt waren, weil sich mit ihnen nach außen Reichtum demonstrieren ließ, sie aber wohl auch den Geschmacksnerv der Zeit trafen. Nun aber wird tendenziell mehr auf den Eigengeschmack der Zutaten geachtet, der durch passende Beilagen und Gewürze verstärkt wird, was eine Absage an die mittelalterliche Gepflogenheit, alles relativ wahllos mit Saucen und verschiedensten Gewürzen zu bedecken, darstellt. Innovativ ist Maestro Martino auch hinsichtlich diverser Rezepte, die bislang noch nicht in anderen, früheren Kochbüchern zu finden waren. So wird das Gericht Finanziera, ein Eintopfgericht aus Innereien, das noch heute ein typisches Gericht der piemontesischen Küche ist, von Maestro Martino erstmals erwähnt. Gleiches gilt für den Begriff Polpette, unter dem er allerdings nicht (wie heute) (Fleisch-)Klöschen verstand, sondern eine Art Roulade am Spieß.[9] Auch Mostarda mit Früchten und Senf wird von ihm erstmals im Rahmen eines Kochbuchs angeführt.[10] Auch um die Weiterentwicklung der für Italien heute so typischen Nudeln hat sich Maestro Martino verdient gemacht, indem er z.B. die Herstellung von Maccheroni siciliani oder Maccheroni alla romana beschrieb oder das Trocknen von Nudeln empfahl, die so zwei bis drei Jahre aufhebbar seien. Innovativ war er auch hinsichtlich der Kochtechniken: Bei ihm wird erstmals in der Literatur ein Siebtuch zum Passieren von Saucen erwähnt.

 

Gebrüder Limburg Januar
Gebrüder Limburg:
Festessen um 1410/16
Monat Januar im Stundenbuch des Herzogs von Berry (beschnitten)
1410/16, Buchmalerei, Chantilly (Musée Condé)

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Die Bedeutung Maestro Martinis Werk liegt in dessen “didaktisch-empirische[m] Ansatz: Er begnügt sich nicht damit, die Zutaten in den Topf zu schütten, sondern studiert vorher ihre Natur, Kocheigenschaften und Verträglichkeit.”[11] Aufgrund dieses Umstands und vielleicht auch, weil Maestro Martino sein Werk in einem zeitgenössischen Umgangsitalienisch (volgare) verfasste, wurde es “sofort ein großer Erfolg und zu einem der meistkopierten Kochbücher der gesamten Renaissance”.[12] Erhalten ist das Werk in drei sehr frühen Codices, die sich in der Vatikanischen Bibliothek (lat. 1203), in der Washingtoner Library of Congress (s.u.) sowie in Privatbesitz in Riva del Garda (Biblioteca Civica c. 11; dort ist als Verfasser Martino de Rubeis angegeben) befinden.

 

Mitverantwortlich für den Erfolg des Libro de arte coquinaria, oder besser gesagt: der darin enthaltenen Rezepte waren nicht nur Kopisten des Traktats, sondern sicherlich auch Autoren anderer Kochbücher, die sich fleißig aus dem Libro de arte coquinaria bedienten, und dies oft ohne Nennung ihrer Quelle. Ein Beispiel hierfür ist Giovanni Rossellis Epulario, das erstmals 1516 in Venedig erschien, 17 Auflagen erreichte und 262 Rezepte enthielt.[13] Von Rosselli ist wenig bekannt – vermutlich war er ein französischer Koch (eventuell Jean Duval Joanni de Valle)[14], der u.a. für Papst Paul III (Pontifikat 1534-1549) tätig war. Jedenfalls erlebte sein Epulario 17 Auflagen auf Italienisch und Französisch.
Auch Bartolomeo Sacchi, genannt Platina, hat in seinem De honesta … viele der Rezepte des Maestro Martino übernommen, doch im Gegensatz zu Rossetti nannte er seine Quelle und fügte ihnen viel Neues hinzu, weshalb wir Platina eine eigene Seite in unserer Folge der historischen Kochbücher und Köche Italiens widmen.

 

Auswahl verfügbarer Ausgaben

Print:
Maestro Martino: The Art of Cooking. The First Modern Cookery Book, ed. Luigi Ballerini, trans. Jeremy Parzen, Berkeley (University of California Press) 2005

Digitalisiert und online:
Maestro Martino: Libro de arte coquinaria, Library of Congress Washington (Sign. Medieval Manuscript No. 153)
eine der frühen Handschriften; online

Maestro Martino: Libro de arte coquinaria
Transkription von Thomas Gloning, Uni Giessen, auf der Basis der Washingtoner Handschrift; online und als PDF

Trotz intensiver Recherche konnte leider weder eine aktuell im Buchhandel befindliche Ausgabe noch eine digitalisierte Reproduktion einer früheren auf Deutsch übersetzten Ausgabe nachgewiesen werden.

Film

Maestro Martino. Il grande cuoco del rinascimento
Dokumentation von Michelangelo Gandolfi für das schweizer Fernsehen RSI2, 2009, 52 Minuten, auf Italienisch; online

Rezeptauswahl zum Nachkochen auf Italienisch

“Maestro Martino da Como”; online

 

 

Maestro Martino auf Authentisch-Italienisch-Kochen

Alle Fundstellen hier

 

 

Reihe "Italienische Kochbücher und Köche"

Nr. 1Einführung
Nr. 2Apicius: De re coquinaria (3./4. Jh.)
Nr. 3Anonym: Liber de Coquina (um 1310)
und Hinweise auf:
Anonimo Meridionale: (Anonimo Meridionale) (Ende 14./ Anf. 15. Jh.)
Anonimo Toscano: Libro di cocina (um 1400)
Anonimo Veneziano: Libro per cuoco (Anfang 15. Jh.)
Nr. 4Maestro Martino: Libro de arte coquinaria (1456/67)
und Hinweise auf:
Giovanni Rosselli: Epulario (1516)
Nr. 5Platina (Bartolomeo Sacchi): De honesta voluptate et valetudine (1466/67)
und Hinweise auf:
Hippokrates von Kos (ca. 460–370) und Galen (ca. 129-199)
Nr. 6Ortensio Lando: Commentario delle più notabili, et mostruose cose d’Italia, & altri luoghi (1548)
Nr. 7Cristoforo di Messisbugo: Banchetti, composizioni di vivande e apparecchio generale (1549)
und Hinweise auf:
Cristoforo di Messisbugo: Libro novo nel qual si insegna a far d’ogni sorte di vivanda (1564)
Ruperto da Nola: Libre de doctrina per a ben servir, de tallar y del art de coch (1520)
Nr. 8Domenico Romoli: La Singolare Dottrina (1560)
Nr. 9Bartolomeo Scappi: Opera (1570)
und Hinweise auf:
Cuoco Napoletano (Ende 15. Jh.)
Antonio Camuria: Apparecchi diversi da mangiare et rimedii (1524)
Giovann Battista Rossetti: Dello Scalco (1584)
Andrea Bacci: De naturali vinorum historia (1596)
Nr. 10Bartolomeo Stefani: L'arte di ben cucinare (1662)
Nr. 11Antonio Latini: Lo scalco alla moderna (1692 u. 1694)
und Hinweise auf:
Mattia Giegher: Trattato delle piegature (1629)
Giovanni Battista Crisci: Lucerna de‘Corteggiani (1634)
Nr. 12Anonym: Il cuoco piemontese perfezionato a Parigi (1766)
und Hinweise auf:
François-Pierre de La Varenne: Le cuisinier françois (1651)
Nr. 13Vincenzo Corrado: Il cuoco galante (1773)
und Hinweise auf:
Antonio Cocchi: Del vitto pitagorico per uso della medicina (1757)
Nr. 14Francesco Leonardi: L'Apicio moderno (1790)
und Hinweise auf:
Antonio Nebbia: Il cuoco maceratese (1779)
Nr. 15Ippolito Cavalcanti: Cucina teorico-pratica (1837)
Nr. 16Pellegrino Artusi: La scienza in cucina e l'arte di mangiar bene (1891)
und Hinweise auf:
Giovanni Vialadri: Trattato di cucina, Pasticceria moderna, Credenza e relativa Confettureria (1854)
Giovanni Vialadri: Cucina Borghese semplice ed economica (1864)
Nr. 17Ada Boni: Il talismano della felicità (1925)
und Hinweise auf:
Giulia Ferraris Tamburini: Come posso mangiar bene (1900)
Petronilla (Amalia Moretti Foggia): Tra i fornelli (1932 ff)
Nr. 18Filippo Tommaso Marinetti: La cucina futurista (1932)
Nr. 19Kochbücher der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts
mit Hinweisen auf:
Il cucchiaio d'argento (1950)
Der Silberlöffel (2006)
Il cucchiaio d'argento - Cucina regionale (2008)
Touring Club Italia (Hrsg.): Guida gastronomica d’Italia (1931)
Anna Gossetti della Salda: Le ricette regionali italiane (1967)
Luigi Carnacina u. Luigi Veronelli: La cucina rustica regionale (1974)
Alessandro Molinari Pradelli: Cucina regionale italiana (1999)
Accademia Italiana della Cucina: La Cucina del Bel Paese (2002)
Accademia Italiana della Cucina: La Cucina. Die originale Küche Italiens (2013)
La Repubblica u. TV Sorrisi e Canzoni: Enciclopedia della Cucina Regionale (2008)
Slow Food: Cucina regionale (2010)
Slow Food: L’italia in cucina (2017)

 

Siehe auch unsere Büchertipps zur italienischen Küche.

 

 

 

Fußnoten    (↵ zurück zum Text; ggf. geschlossenen Text zunächst öffnen)

  1. Titel des 4. Abschnitts in Jacob Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch, Stuttgart (Kröner) 1976, S. 261 (Erstauflage: Basel 1860 – online )
  2. Vgl. Il cuoco letterato: Maestro Martino da Como (Letzter Zugriff: 12.03.22)
  3. In der Forschung gilt nicht als vollständig gesichert, dass der Maestro Martino, der als Koch für die Päpste tätig war, identisch mit dem Maestro Martino ist, der das Libero de arte coquinaria schrieb – vgl. Marie Josèphe Moncorgé: Libro de arte coquinaria de Maestro Martino. Ähnlich Giuseppe Chiesi: Rossi, Martino, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS) (Letzter Zugriff: 12.03.22)
  4. Moncorgé (a.a.O.) sieht Maestro Martino hingegen als Beteiligten an einem 1501 ausgerichteten Festesssen in der Nähe von Maestro Martinos Heimatort.
  5. Emilio Montorfano geht hingegen in Mastro Martino un cuoco del XV secolo von einer Abfassung zwischen 1440 und 1467 aus. (Letzter Zugriff: 12.03.22)
  6. Vgl. Frankwalt Möhren (Hrsg.): Libro di cocina. Un ricettario tra Oriente e Occidente, Heidelberg (University publishing) 2016, S. 47
  7. Gemeint ist die Zeit, die ungefähr das Beten eines Vaterunsers dauert. Küchentimer und andere Kurzzeitmesser gab es damals ebenso wenig wie Taschen- oder gar Armbanduhren, so dass die Zählung von Minuten schwierig war, weshalb man bei kürzeren Zeitintervallen auf die Dauer eines Gebets als Zeiteinheit zurückgriff.
  8. Ebd. S. 45
  9. Vgl. Garum (Letzter Zugriff: 12.03.22)
  10. Vgl. https://it.wikipedia.org/wiki/Mostarda_vicentina (Letzter Zugriff: 12.03.22)
  11. Peter Peter: Cucina e cultura. Kulturgeschichte der italienischen Küche, München (C.H. Beck) 2006, S. 78. Dort findet sich auf S. 74-78 eine gute zusammenfassende Darstellung der Charakteristika von Maestro Martinos Küche.
  12. “Il ricettario di Maestro Martino ebbe da subito un grande successo e divenne uno dei testi di cucina più copiati di tutto il Rinascimento” – Mangiarebene.com (Letzter Zugriff: 12.03.22). Allerdings wurde der Text wohl erst im 19. Jahrhundert erstmals gedruckt.
  13. Vgl. Wikipedia, TaccuiniGastrosofici und Palatiaspasso.
    Die Bayrische Staatsbibliothek München besitzt vier Ausgaben von Giovanni Rossellis Epulario, die online lesbar und als PDF downloadbar sind:
    Ausgabe Venedig 1519 (Sig.: Oecon. 1522)
    Ausgabe Venedig 1547 (Sig.; Oecon. 557)
    Ausgabe Venedig 1582 (Sig.: Oecon 558)
    Ausgabe Trevigi 1657 (Sig.: J.rom.c. 235#Beibd.2)
    Ein unvollständiges, aber durchsuchbares Transkript befindet sich auf Wikisource
    Viele Rezepte zum Nachkochen auf ShannonParadise (engl.) (Letzte Zugriffe: 12.03.22)
  14. Vgl. https://www.bibliotecabertoliana.it/file/3212-Cucina_antica_in_Bertoliana.pdf (Letzter Zugriff: 12.03.22)

Diese Seite wurde zuletzt aktualisiert am 5. Januar 2024
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