Ortensio Lando: Commentario

Italienische Kochbücher und Köche – #6

 

Ortensio Lando (* 1512 oder kurz danach in Mailand; † 1553 oder kurz danach in Neapel[1]) war zeitweilig italienischer Augustinermönch, vor allem aber Humanist und Schriftsteller, und nebenbei auch noch Übersetzer (z.B. der ersten italienischen Ausgabe von Thomas Morus’ Utopia oder von Texten von Martin Luther). Die Themen seiner teilweise humoristisch gefärbten Werke hatten eine breite Spannweite: Von Cicero über zeitgenössische Sitten bis hin zum Kochen, das uns hier natürlich besonders interessiert. Er ergänzte seine Studien durch zahlreiche Reisen kreuz und quer durch Italien, aber auch nach Frankreich, Deutschland und in die Schweiz, und kam dadurch mit wichtigen Zeitgenossen (wie Johann Jakob Fugger in Augsburg) in Kontakt. Lando war kein herausragender Oppositioneller gegenüber den religiösen und weltlichen Autoritäten seiner Zeit, verkehrte jedoch in dissidenten religiösen und politischen Kreisen und geriet am Ende seines Lebens in Venedig ins Fadenkreuz der Inquisition. Uns interessiert hier sein 1548 erstmals gedrucktes Buch

 

Commentario delle più notabili, et mostruose cose d’Italia, & altri luoghi

 

(Kommentar der bedeutendsten und bewundernswerten Dinge Italiens und anderer Orte), “ein Werk, in dem sich politische Empörung und Satire mit kulinarischen Geschichten vermischen”.[2] Darin führt Lando einen fiktiven aramäischen Reisenden aus dem “Königreich der Verlorenen” durch Italien, um ihm in Gestalt eines wissenden Florentiners aus Utopia (!) die jeweiligen gastronomischen und önologischen Spezialitäten der verschiedenen Regionen zu zeigen. Die fiktive Reise beginnt auf Sizilien, führt durch mehrere Regionen Italiens nach Norden, um schließlich nach vielen Stationen in Genua zu enden, wo der Gast die Heimreise antritt. Das Thema vertiefend findet sich im Anhang ein nicht ganz ernst gemeinter Catalogo delli inventori delle cose, che si mangiano, et si bevono (Katalog der Erfinder der Dinge, die man isst und die man trinkt), in dem fantastische, mythologische und historische Persönlichkeiten als Erfinder von Speisen und Getränken auftreten.

 

lando commentario
Erstausgabe von 1548

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In seinem Buch lobte Lando bspw. die sizlianischen Makkeroni, das in Neapel gegessene Weißbrot (“… è veramente il pane che gustano gli Agnoli in paradiso” – dt.: “… ist wirklich das Brot, das die Engel im Paradies genießen”), pries in Mittelitalien die Pignocate, in der Toskana im Zusammenhang mit Lucca den Castagnaccio (Kastanienkuchen) und fand bei Pisa den besten Ricotta, lobte die Luganega (luganica) aus Monza und überhaupt die Wurstwaren Nord- und Mittelitaliens bis hin zu den Pizzoccheri des Veltlin und den ligurischen salzigen Torten (von ihm gattafura genannt). Viele von Lando genannte Speisen kennt man noch heute, auch wenn sie heute vielleicht nicht immer noch so zubereitet werden wie zu seinen Zeiten.

 

lando commentario
Autorenbezeugung am Schluss des Buchs als Anagramm:
Landus Hortensius est autor

 

So wie der Autor kein Koch ist, ist Ortensio Landos Commentario auch kein Kochbuch, das dem Leser Rezepte anbietet. Es ist eher eine Art gastro-önologischer Reiseführer, der einen auswärtigen Besucher auf kulinarische Highlights seines Besuchslandes hinweist. Damit begründet er eine Literaturgattung, in der sich heute viele Gastro-Reiseführer finden.

 

italien 1494
Italien 1494

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Auffallend ist beim Commentario nicht nur, dass Ortensio Lando ein gutes Gespür für die leckeren Dinge seiner Zeit hatte, sondern dass er sich explizit schon im Titel auf Italien bezog. Denn das gab es damals in der heutigen Form noch nicht: Italien bestand damals aus vielen einzelnen größeren und kleineren Staaten. Auch Lando begriff Italien nicht als politische Einheit, tendenziell aber als eine geographische Einheit, deren Gerichte er auflistete. Dabei betonte er allerdings nicht eine kulinarische Einheit im Sinne einer italienischen Küche, sondern nannte Speisen, die allerdings Verbindendes haben wie verschiedene Pasta-Gerichte, ähnliche Wurstzubereitungen u.ä. Und damit deutete Ortensio Lando tendenziell kulinarische Parallelen an und tat einen großen Schritt in Richtung dessen, was wir heute italienische Küche nennen.[3]

 

Auswahl verfügbarer Ausgaben

Print:
Ortensio Lando: Commentario …, hrsg. von Guido u. Paola Salvatori, Bologna (Edizioni Pendrago) 1994
nach der Ausgabe von 1553

digitalisiert und online:
Ortensio Lando: Commentario …, Venedig 1548 (italienische Erstausgabe)
1) Standort: Bayerische Staatsbibliothek München (Sign. Ital 92); online und PDF
2) Standort: Vatikanische Bibliothek; online und PDF
3) Standort unbekannt; Transkription des Gutenberg-Projekts mit Anmerkungen; online
4) Standort unbekannt; Transkription auf Basis des Gutenberg-Projekts; PDF

Ortensio Lando: Commentario …, Venedig 1550
Standort: Universitätsbibliothek Turin; online und PDF

Ortensio Lando: Commentario …, Venedig 1554
Standort: Bayerische Staatsbibliothek München (Sign. Ital 244 b); online und PDF

Ortensio Lando: Commentario …, Venedig 1569
1) Standort: Nationalbibliothek Rom; online und PDF
2) Transkription; vierseitiger Auszug in Massimo Montanari: L’ Europa a tavola. Storia dell’alimentazione dal Medioevo a oggi, Bari (Laterza Edizioni) 1997; mit Anmerkungen; PDF

 

 

Ortensio Lando auf Authentisch-Italienisch-Kochen

Alle Fundstellen hier

 

 

Reihe "Italienische Kochbücher und Köche"

Nr. 1Einführung
Nr. 2Apicius: De re coquinaria (3./4. Jh.)
Nr. 3Anonym: Liber de Coquina (um 1310)
und Hinweise auf:
Anonimo Meridionale: (Anonimo Meridionale) (Ende 14./ Anf. 15. Jh.)
Anonimo Toscano: Libro di cocina (um 1400)
Anonimo Veneziano: Libro per cuoco (Anfang 15. Jh.)
Nr. 4Maestro Martino: Libro de arte coquinaria (1456/67)
und Hinweise auf:
Giovanni Rosselli: Epulario (1516)
Nr. 5Platina (Bartolomeo Sacchi): De honesta voluptate et valetudine (1466/67)
und Hinweise auf:
Hippokrates von Kos (ca. 460–370) und Galen (ca. 129-199)
Nr. 6Ortensio Lando: Commentario delle più notabili, et mostruose cose d’Italia, & altri luoghi (1548)
Nr. 7Cristoforo di Messisbugo: Banchetti, composizioni di vivande e apparecchio generale (1549)
und Hinweise auf:
Cristoforo di Messisbugo: Libro novo nel qual si insegna a far d’ogni sorte di vivanda (1564)
Ruperto da Nola: Libre de doctrina per a ben servir, de tallar y del art de coch (1520)
Nr. 8Domenico Romoli: La Singolare Dottrina (1560)
Nr. 9Bartolomeo Scappi: Opera (1570)
und Hinweise auf:
Cuoco Napoletano (Ende 15. Jh.)
Antonio Camuria: Apparecchi diversi da mangiare et rimedii (1524)
Giovann Battista Rossetti: Dello Scalco (1584)
Andrea Bacci: De naturali vinorum historia (1596)
Nr. 10Bartolomeo Stefani: L'arte di ben cucinare (1662)
Nr. 11Antonio Latini: Lo scalco alla moderna (1692 u. 1694)
und Hinweise auf:
Mattia Giegher: Trattato delle piegature (1629)
Giovanni Battista Crisci: Lucerna de‘Corteggiani (1634)
Nr. 12Anonym: Il cuoco piemontese perfezionato a Parigi (1766)
und Hinweise auf:
François-Pierre de La Varenne: Le cuisinier françois (1651)
Nr. 13Vincenzo Corrado: Il cuoco galante (1773)
und Hinweise auf:
Antonio Cocchi: Del vitto pitagorico per uso della medicina (1757)
Nr. 14Francesco Leonardi: L'Apicio moderno (1790)
und Hinweise auf:
Antonio Nebbia: Il cuoco maceratese (1779)
Nr. 15Ippolito Cavalcanti: Cucina teorico-pratica (1837)
Nr. 16Pellegrino Artusi: La scienza in cucina e l'arte di mangiar bene (1891)
und Hinweise auf:
Giovanni Vialadri: Trattato di cucina, Pasticceria moderna, Credenza e relativa Confettureria (1854)
Giovanni Vialadri: Cucina Borghese semplice ed economica (1864)
Nr. 17Ada Boni: Il talismano della felicità (1925)
und Hinweise auf:
Giulia Ferraris Tamburini: Come posso mangiar bene (1900)
Petronilla (Amalia Moretti Foggia): Tra i fornelli (1932 ff)
Nr. 18Filippo Tommaso Marinetti: La cucina futurista (1932)
Nr. 19Kochbücher der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts
mit Hinweisen auf:
Il cucchiaio d'argento (1950)
Der Silberlöffel (2006)
Il cucchiaio d'argento - Cucina regionale (2008)
Touring Club Italia (Hrsg.): Guida gastronomica d’Italia (1931)
Anna Gossetti della Salda: Le ricette regionali italiane (1967)
Luigi Carnacina u. Luigi Veronelli: La cucina rustica regionale (1974)
Alessandro Molinari Pradelli: Cucina regionale italiana (1999)
Accademia Italiana della Cucina: La Cucina del Bel Paese (2002)
Accademia Italiana della Cucina: La Cucina. Die originale Küche Italiens (2013)
La Repubblica u. TV Sorrisi e Canzoni: Enciclopedia della Cucina Regionale (2008)
Slow Food: Cucina regionale (2010)
Slow Food: L’italia in cucina (2017)

 

Siehe auch unsere Büchertipps zur italienischen Küche.

 

 

 

Fußnoten    (↵ zurück zum Text; ggf. geschlossenen Text zunächst öffnen)

  1. Vgl. Treccani (Letzter Zugriff: 06.04.22)
  2. Pendragon (Un’opera in cui spunti di sdegno politico e di satira si mescolano a favoleggiamenti culinari) (Letzter Zugriff: 06.04.22)
  3. Darüber, wie groß dieser Schritt denn nun tatsächlich war, gibt es verschiedene Auffassungen. Am prononciertesten drückt es Forumlibri aus: “Der Geist dieses Werks scheint jedoch eine klare Vorstellung von Italien als kultureller Einheit zu haben”. Etwas abgeschwächt findet sich diese Haltung auch bei
    La Tribuna di Treviso: “Das von Ortensio Lando beschworene Italien ist das Italien der Kultur. Das Italien der Kunst, Literatur, Musik, das keine Grenzen kennt. […] Ein ‘Kulturland’, das lange vor dem politischen Italien existierte. Eine Kultur, in der das Kochen immer ein wesentlicher Bestandteil war.”
    TaccuinGastrosofici “[…] Italien der Kultur, das ihm [dem politischen Italien] Jahrhunderte vorausging: In der Renaissancezeit und schon im Mittelalter gab es dieses Italien bereits. Und in diesem Italien der Kultur war das Kochen ein wesentlicher Bestandteil.”
    La Cucina Italiana: “Ortensio Lando spricht davon: eine italienische Kultur, die Italien nicht braucht, um zu existieren.”
    Mal davon abgesehen, dass es schwierig ist zu rekonstruieren, welchen Intentionen Landino zur Nutzung des Begriffs “Italien” bewogen haben mögen, würde ich vorsichtiger von “kulturellen Parallelen” sprechen als von “Italien als kultureller Einheit”. Begründet wird die These der “italienischen Kultur” oftmals so: So wie die Maler der Renaissance Aufträge an verschiedenen Orten Italiens ausführten, seien auch die Köche als (Hof-)Köche für verschiedene Herren zirkulierend tätig gewesen, woraus eine kulinarische Kultur entstanden sei. Der Verweis auf die Malerei ist aber m.E. nur bedingt tauglich, denn auch in der Renaissance gab es keine einheitliche Malerei: Die florentiner Künstler waren eher dem Prinzip disegno verpflichtet, während man in Venedig eher die Farbigkeit akzentuierte. Dass man dabei voneinander lernte, ist selbstverständlich, lässt aber nicht zwingend auf eine “kulturelle Einheit” schließen.

Diese Seite wurde zuletzt aktualisiert am 5. Januar 2024
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